Dienstag, 9. September 2014

Netzespresso: Was wir finden, wenn wir verloren gehen

Mit technischen Fortschritten und der Digitalisierung unseres Alltags gewinnen wir nicht nur viel hinzu, wir verlieren auch Dinge. (Nein, keine Sorge, das wird kein technologiekritischer Post. Instrumente sind selten schuld daran, wie man mit ihnen umgeht.)

Der britische Science-Fiction-Autor Charles Stross hat einen dieser Verluste als Nebengedanken in seinem Roman Halting State aufgegriffen: Die nächste Generation wird nicht wissen, wie es sich anfühlt, sich in einer fremden Stadt, fremden Gegend zu verirren. Weil sie immer wissen werden, wo sie sind. 

Der Verlust des Sich-Verirrens und die Implikationen dieses Konzepts finde ich einen spannenden Gedanken. Versteht mich nicht falsch, ich bin ein großer Fan von GPS-Navigation auf Mobilgeräten. Ich finde es großartig, in fremden Umgebungen dank Smartphone von A nach zu B zu kommen, ohne mit Karten oder anderem Krempel hantieren zu müssen. Noch großartiger mit Sprachausgabe, weil man dann ungestört die Umgebung mitbekommt.

Drift - Eine App zum Verlorengehen. Bild: Screenshot.


Aber die genaue Verortung und Zielführung kann den Blick verengen. Menschen, die die Welt durch ein Display wahrnehmen, hat jeder schon zur Genüge gesehen.

Der Verlust von Unsicherheit kann ebenfalls den Blick und die Gedanken verengen. Der Fokus auf ein Ziel lässt die weitere Umgebung verschwimmen. Mit negativen Folgen, nicht umsonst geht es bei Ideenfindungsprozessen darum, nicht nur eine Lösung zu finden und sich auf der auszuruhen, sondern möglichst verschiedene Blickwinkel einzunehmen.

Wie gewinnt man nun Unsicherheit zurück?

Es gibt eine App dafür. Sogar mehrere. (Nein Apple Maps zählt nicht dazu.) Ben Schiller hat für Fast Company mal vier davon aufgelistet. Gemeinsam ist ihnen der Grundgedanke, Menschen einen Stups zu geben, mehr von ihrer Umgebung zu erkunden.

Ob nun Dérive, das den Nutzern Aufgaben stellt (Folge dem Taxi, geh zum Fluß und fotografiere was besonderes), Serendipitor (zufällige Navigationsanweisungen oder Unschärfen schicken Nutzer auf andere Wege) oder Drift, das Menschen durch die Nachbarschaft auf Entdeckungstour schickt - sie alle wollen Menschen aus der fokussierten Routine reißen und das Fremde, oder besser: Neue, im Vertrauten entdecken lassen.

Schon der Claim von Drift ist großartig: "A tool for getting lost in familiar places".


Drift: a tool for getting lost in familiar places from brokencitylab on Vimeo.

Wenig überraschend stellt nichts davon eine kommerzielle Anwendung dar, es handelt sich eher um Kunstprojekte.

Der Gedanke, der Impuls dahinter ist das interessante daran. Auch wenn es hier nicht darum geht, wirklich verloren zu gehen oder sich zu verlieren. Sondern die Augen zu öffnen, um Dinge jenseits des Vertrauten zu entdecken, ausgeblendetes.

Für kreative Prozesse, aber auch ganz generell als Einstellung ist das wichtig: Neues entdecken und nicht nur die Leitplanken des Alltags zu sehen. Man sollte dafür keine App brauchen. Wer das aber tut: Es gibt sogar Auswahl.



1 Kommentar:

  1. Dein letzter Satz ist sehr wichtig!
    Was ist falsch mit euch das ihr ne App braucht die euch sagt "geh zum Fluß und fotografiere was besonderes".

    Ich mein, ich selbst bin eher jung, generation smartphone und das erste was ich morgens mache wenn ich aufstehe ist den computer hochzufahren, dann zur arbeit um den ganzen tag am PC zu sitzen und wenn ich Abends heim komme...richtig, werd ich den PC nutzen.

    Und trotzdem ist ja wohl das erste was man macht wenn man in eine neue Stadt kommt rumzulaufen (ohne Smartphone) und "entdecken". Es sei denn man hat kein Interesse daran aus Gruenden.
    Aber das ist ja auch vollkommen ok...und man wuerde dann auch nicht solch eine App brauchen.

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